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Der Fall Rupperswil gilt als die erste grosse digitale Ermittlung der Schweiz, weil der Täter mit einem Antennensuchlauf ermittelt worden sei. Doch die These ist falsch.
Der 21. Dezember des Jahres 2015 war wie der heutige ein Montag. Über dem Aargauer Dorf Rupperswil stieg Rauch auf. In einem Zweifamilienhaus brannte es. Die Feuerwehr stiess auf vier Leichname. In den Weihnachtstagen verbreitete sich die Nachricht, dass hier eine Familie ermordet worden war. Es war der Beginn einer der grössten Fahndungsaktionen der Schweiz. 146 Tage dauerte sie. Erst dann wurde der Vierfachmörder Thomas N. gefasst.
Mit dem Fall Rupperswil wurde eine neue Fahndungsmethode allgemein bekannt: der Antennensuchlauf. Die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei werteten die Daten von drei Mobilfunkantennen in der Nähe des Tatorts aus. Darin befanden sich die Handynummern von rund 30'000 Personen, deren Geräte sich in den Stunden um die Tat mit den Antennen verbunden hatten. Das können Anrufe, Mitteilungen oder Datenverbindungen von Apps sein, die im Hintergrund laufen. Die Zahl der erfassten Nummern ist so gross, weil die drei Antennen an der Bahnlinie und Autobahn liegen.
Seither gilt der Antennensuchlauf als Erfolgsgeschichte. Namhafte Experten verbreiteten die Erzählung, dass der Täter mit dieser Methode ermittelt worden sei. Die Ermittler hatten kein Interesse daran, diese Legende zu dementieren, weil der angebliche Erfolg half, künftige Antennensuchläufe zu rechtfertigen und zu finanzieren. Denn die Methode ist sehr teuer. 816000 Franken stellte der Bund dem Kanton dafür zuerst in Rechnung, was zu einem Gerichtsstreit führte.
Die Wahrheit ist: Der Antennensuchlauf war in diesem Fall nutzlos. Die Ermittler fanden dadurch keine Hinweise, die zum Täter führten. Zwar befand sich seine Handynummer tatsächlich im Datenhaufen. Die berühmte Nadel im Heuhaufen erkannten die Ermittler aber erst, als sie den Mörder auf anderem Weg identifiziert hatten und seine Nummer mit den Antennendaten abglichen. So hatten sie zwar ein weiteres Indiz, welches sie im Prozess dann aber nicht verwendeten.
21. Dezember 2015: Thomas N. klingelt in Rupperswil bei einer Familie, die 500 Meter entfernt von ihm wohnt. Mutter Carla Schauer öffnet die Türe. Er gibt sich als Schulpsychologe aus, der sich für den jüngsten Sohn Davin interessiert. Er unterhält sich mit ihm, während sich die Mutter oben im Bad frisiert. Plötzlich hält er Davin ein Messer an die Kehle. So zwingt er die Mutter, ihren älteren Sohn Dion und dessen Freundin Simona zu fesseln. Dann befiehlt er der Mutter, bei der Bank Geld zu holen. Als sie mit 11000 Franken zurückkommt, fesselt er sie. Er zwingt Davin zu sexuellen Handlungen. Am Schluss tötet er alle mit einem Schnitt durch die Kehle und zündet das Haus an. Er spaziert nach Hause und nimmt eine Dusche.
12. Mai 2016: Die Polizei nimmt Thomas N. im Starbucks von Aarau fest. Am Tag danach gibt sie das Unglaubliche bekannt: Der Täter ist ein 33-jähriger Student aus der Nachbarschaft. Er hat bereits weitere Taten geplant.
16. März 2018: Das Bezirksgericht Lenzburg verurteilt N. zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und ordnet eine Verwahrung sowie eine ambulante Therapie an. Den Antrag für eine lebenslange Verwahrung lehnt das Gericht ab.
13. Dezember 2018: Das Aargauer Obergericht bestätigt das Urteil, hebt aber die ambulante Therapie auf.
21. Mai 2019: Das Bundesgericht weist eine Beschwerde von Thomas N. ab. Er hat damit einzig eine Therapie verlangt.
12. Mai 2031: An diesem Datum endet die Frist von 15 Jahren, nach der bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe eine Entlassung möglich ist. Auf diesen Zeitpunkt hin wird beurteilt, ob N. noch eine Gefahr darstellt. (mau)
Die Recherchen dieser Zeitung stützen sich auf Quellen in der Polizei und in der Staatsanwaltschaft. Einige Polizisten sind gesprächig, weil sie sich über die Legende aufregen. Sie suggeriert, Computerprogramme hätten den Fall gelöst beziehungsweise die Datenspezialisten in den Büros. Dabei waren es die mehr als hundert Männer und Frauen auf den Strassen von Rupperswil, die klassische Polizeiarbeit leisteten. Sie nahmen etwa den Inhalt jedes Abfallkübels im Umkreis von Kilometern unter die Lupe und klingelten an jeder Haustüre in der Umgebung, um den Bewohnern einen Fahndungsaufruf zu zeigen. Dabei gingen zwar keine direkten Hinweise ein, aber die Profiler konnten indirekte Hinweise sammeln. Sie beobachteten, wie die Leute reagierten. Sie klingelten auch bei Thomas N. Ob er sich dabei verdächtig gemacht hat, ist nicht bekannt. Polizisten sagen, die Methode habe die Ermittlungen im Gegensatz zum Antennensuchlauf zumindest vorangebracht.
Was dann am Schluss der entscheidende Ansatz war, ist ein Staatsgeheimnis und bleibt es vorerst auch. Die Strafverfolger wollen damit verhindern, dass ihre Aktionen in künftigen Fällen den Überraschungseffekt verlieren. Zum Beispiel nach einem Mord in Aarau im Januar 2019 wurde dieselbe Methode nochmals angewendet, wie es hinter vorgehaltener Hand heisst.
Von offizieller Stelle ist deshalb keine Bestätigung für die Widerlegung des Mythos zu erhalten. Konfrontiert damit geben die beiden führenden Ermittler des Falls aber vielsagende Statements ab. Markus Gisin, Chef der Aargauer Kriminalpolizei, sagt: «Es war nicht die eine Methode, die uns zum Täter geführt hat. Es war ein Mix aus verschiedenen Abklärungen.» Und Staatsanwältin Barbara Loppacher ergänzt: «Der Antennensuchlauf allein reicht in der Regel nicht zur Aufklärung von schweren Straftaten.»
Markus Gisin sprach letzte Woche in der Sendung TalkTäglich auf Tele M1 erstmals ausführlich über den Vierfachmord von Rupperswil:
Der Antennensuchlauf ist die ideale Methode zur Fahndung nach Tätern, die an mehreren Orten oder zu unterschiedlichen Zeiten zugeschlagen haben. Dabei werden ihre Handydaten von unterschiedlichen Antennensuchläufen erfasst. Die Schnittmenge der beiden Zahlenreihen ist dabei so klein, dass sie nur aus den Daten der Täterschaft besteht. So wurde eine Serie von Überfällen auf Geldtransporter im Waadtland aufgeklärt. Die Täter haben an den Tatorten stets die gleiche Datenspur hinterlassen.
Im Fall Rupperswil gab es aber nur einen Tatort und nur eine Tatzeit. Aus dem Antennensuchlauf liess sich zwar der Pendlerverkehr herausfiltern. Dabei blieben aber immer noch Hunderte Nummern, quasi das Telefonbuch aller Rupperswiler, die am 21. Dezember ihr Handy eingeschaltet hatten. Diese Zahlen wären erst hilfreich gewesen, wenn sie mit anderen hätten abgeglichen und der Datenberg damit auf eine kleine Schnittmenge hätte reduziert werden können. Im Fall Rupperswil gab es dafür keine Anhaltspunkte.
Thomas N. hatte am Tatort zwar seine Fingerabdrücke und seine DNA hinterlassen, doch diese führten in den Datenbanken zu keinen Treffern. Er war vor der Tat das sprichwörtlich unbeschriebene Blatt.
Dass die Staatsanwaltschaft den teuren Auftrag trotzdem erteilt hat, macht Sinn, da dieser nur innerhalb eines halben Jahres nach der Tat bewilligt wird. Die Ermittler sichern sich die Daten, damit sie nicht an einer Frist scheitern. Zudem benötigt die Aufbereitung viel Zeit, da die Mobilfunkanbieter die Nummern in unterschiedlichen Formaten liefern.
Doch wie ist es überhaupt zur Legendenbildung gekommen? Den Anstoss gaben die führenden Ermittler selber, indem sie stets die Vorzüge des Antennensuchlaufs betonten und verschwiegen, dass er vor allem einen Datensalat lieferte, der ohne die passende Zutat wertlos ist. Dann erschienen die ersten Medienberichte, welche suggerierten, der Antennensuchlauf sei erfolgreich gewesen.
Der St. Galler Strafrechtsprofessor Marc Forster nahm die These auf und verbreitete sie in einem Fachbeitrag als Tatsache. Er ist der Experte auf diesem Gebiet. Denn er arbeitet auch als Gerichtsschreiber am Bundesgericht, wo er das Referenzurteil zu Antennensuchläufen formuliert hat. Gleichzeitig ist er ein Fan der Methode. Im Fall Rupperswil sah er die Gelegenheit gekommen, den schon immer erhofften Erfolg endlich bestätigen zu können. So kam es, dass er einen Beitrag verfasste, der wissenschaftlichen Standards nicht standhielt. An den entscheidenden Stellen hat er keine Quellenangaben.
Erstaunlich ist, dass Forster trotzdem namhafte Herausgeber für seine Publikation fand, nämlich die Strafrechtsprofessoren Daniel Jositsch und Christian Schwarzenegger. Die These galt damit als wissenschaftlich erhärtet und wurde danach vom verstorbenen St. Galler Staatsanwalt Thomas Hansjakob in seinem Standardwerk über das Überwachungsrecht übernommen und sogar noch zugespitzt. Das Werk steht im Büro jedes Staatsanwalts, weil es ein praktisches Handbuch mit Musterverfügungen ist.
In juristischen Bibliotheken von Schweizer Universitäten ist der Wälzer zudem im Regal mit der Basisliteratur platziert. Die Falschmeldung hat sich damit im Zentrum der Wissenschaft etabliert, was die Verbreitung in den Medien am Laufen hielt.
Der Fall Rupperswil wurde so zur «Mutter aller digitalen Ermittlungen». Die Legende wurde geglaubt, weil man sie glauben wollte. Dass es sich um eine Fehlgeburt handelte, wurde höflich verschwiegen.
Dabei gab es schon früh Hinweise, dass der Antennensuchlauf nicht zum Durchbruch führte. Zweifel musste haben, wer wusste, wie die Schnittmengenbildung bei dieser Methode funktioniert. Zudem verteilte der Kanton die nicht abgeholte Prämie von 100'000 Franken für Hinweise an die Ermittler und wendete sie nicht etwa zur Deckung der Kosten des Antennensuchlaufs auf. Die hohe Rechnung dafür hätte ihn auch nicht dermassen geärgert, wenn er damit eines der brutalsten Verbrechen aufgeklärt hätte.