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Weinfelden & Kreuzlingen
Am Mittwochabend gab es in Kreuzlingen unter dem Titel «Heim*Weh» eine Stadtführung der besonderen Art. Während Historikerin Nina Schläfli den Teilnehmenden Wissen vermittelte, legte Künstlerin Micha Stuhlmann den Fokus auf die Wahrnehmung.
Mit einer Schlafmaske durch die Stadt wandeln – das war für die Teilnehmenden der Stadtwanderung von Micha Stuhlmann und Nina Schläfli eine neue Erfahrung. Gerüche, Geräusche, Raumempfinden, aber auch das Sicherheitsgefühl veränderten sich. Dabei fing alles ganz normal an.
Nina Schläfli, Historikerin, stellte sich sowie Micha Stuhlmann vor, Künstlerin und tätig als Psychomotoriktherapeutin, und begann mit der Stadtführung: Der Hauptzoll sei für uns alle wichtig, historisch wie menschlich. Konstanz war religiöses wie wirtschaftliches Zentrum, das heutige Kreuzlingen lediglich Hinterland – ein Rebanbaugebiet. Bischof Ulrich I. von Konstanz gründete grenznah 1125 ein Kloster, Crucelin, weil es als Reliquie ein Stück des Jesuskreuzes verwahrt. Dieses Kloster gab der Stadt Kreuzlingen ihren Namen.
«Also, dann geht’s weiter», wollte Nina Schläfli die Gruppe zum Aufbruch bringen, als Micha Stuhlmann mit einem lauten «Moment!» die Bewegung stoppte. «Erst einmal spüren wir in unsere Füsse rein. Wie fühlen sie sich an, atmet tief ein und lasst mit dem Ausatmen alles raus, was vorher war.» Spielregeln hatte Stuhlmann bereits aufgestellt: zügig laufen, kein Smalltalk, Handys lautlos und ein Fundstück mitnehmen, das mit einer Erinnerung verknüpft ist.
Die «Stadtwanderung der besonderen Art» gehört zum Rahmenprogramm des neuen Forschungsprojekts des Laboratoriums für Artenschutz. Der Verein hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft mithilfe von Kunst und Körpererfahrungen zu erkunden. Das aktuelle Forschungsprojekt trägt den Titel «Heim*Weh». Mit der Stadtführung sollten die Menschen ihre Heimat, das ihnen scheinbar Vertraute, neu kennen lernen.
An der Couch von Markus Brenner im Bellevue-Park, die eine Hommage an Freuds Psychoanalyse ist, warfen alle ihre Assoziationen in die Runde, welche sie mit dem Kunstwerk verbanden. «Für Sigmund Freud war freies Assoziieren wichtig, um an das Unbewusste ranzukommen», erklärte Micha Stuhlmann. Vorab hatte Nina Schläfli bereits die historischen Fakten zum Bellevue-Park und dem Werk des Konstanzer Künstlers Brenner gegeben.
Schliesslich wurden besagte Schlafmasken ausgepackt. Paare bildeten sich: Ein Teilnehmender trug die Schlafmaske, der andere führte. Dieses Erlebnis empfanden die meisten als sehr eindrücklich: blind durch Stadt und Gelände. Ein Mann erlebte die Situation an der Strasse als extrem unangenehm, im Park hingegen gefiel es ihm, weg vom Sehen hin zum intensiven Hören, Riechen und Spüren zu lenken.
Das Rauschen des Schoderbachs veränderte sich ständig. Mal war es eher glucksend, dann wieder plätschernd. Für Irritation sorgte ein starker Geruch: «Was war das für ein Restaurant, bei dem es so gut roch?», wollte eine Frau wissen. Kein Restaurant, lediglich ein Mann, der im Garten grillierte.
Spannend war es, als die Masken abgenommen werden durfte. Zwar spürten die Spazierenden die räumliche Veränderung, wenn es vom Weg in die Unterführung und wieder rauf ans Licht ging; den Luftzug des Frühlingswindes, hörten die Züge am Bahnhof, den Verkehr auf den Strassen – aber wo sie gelaufen waren, konnten sie kaum nachvollziehen.
Über den Friedhof ging es zur Basilika St. Ulrich. Nicht nur der Eindruck und Geruch dieses sakralen Ortes, sondern auch die Akustik beeindruckte: Wer wollte, schloss die Augen und atmete summend aus, worauf sich bald ein kleiner Choral entwickelte. Eine Teilnehmerin sagte am Ende: «Für mich war die schönste Erfahrung, als ihr in der Kirche so wunderbar getönt habt.»