Wissenschaftsgeschichte
Er war im Zwischenhirn unterwegs: Der Frauenfelder Walter Rudolf Hess wurde 1949 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet

Eine Würdigung der Stadt Frauenfeld steht noch aus. Hess machte an der hiesigen Kanti die Matur. Später arbeitete er am Kantonsspital Münsterlingen, war als Augenarzt selbstständig, hatte einen medizinischen Lehrstuhl an der Universität Zürich und amtete dort auch als Institutsleiter.

Angelus Hux*
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Eine Aufnahme aus dem Jahr 1944: Walter Rudolf Hess.

Eine Aufnahme aus dem Jahr 1944: Walter Rudolf Hess.

Bild: Ullstein Bild

Was für ein ereignisreiches Leben – mit dem Nobelpreis für Medizin im Jahr 1949 als Höhepunkt. Die prestigeträchtige Auszeichnung erhielt Walter Rudolf Hess für die Entdeckung der funktionalen Organisation des Zwischenhirns für die Koordination der Tätigkeit von inneren Organen. Der Sohn von Clemens und Gertrud Hess wurde am 17. März 1881 – also vor 140 Jahren – in Frauenfeld geboren.

Vater Clemens Hess unterrichtete ab 1877 am Gymnasium und an der technischen Abteilung der Kantonsschule Frauenfeld Physik und war ein anerkannter Experte auf dem Gebiet der Meteorologie. Zuvor war er Lehrer am Technikum im sächsischen Mittweida gewesen, wo er auch seine Gattin Gertrud, geborene Fischer, kennen lernte. In Frauenfeld begleitete er verschiedene technische Betriebe bei der Einführung der Elektrizität, so auch im alten Spital im Talbach die Inbetriebnahme des ersten Röntgenapparats.

Walter Rudolf Hess kam durch seinen experimentierfreudigen Vater sicher schon früh in Kontakt mit den Naturwissenschaften. Von seiner Mutter scheint er Selbstdisziplin und eine gewisse Strenge geerbt zu haben. Im Frühling 1900 bestand er die Maturitätsprüfung am Gymnasium in Frauenfeld. Sein Medizinstudium begann er in Lausanne. In Bern, Berlin, Kiel und Zürich folgten die vorklinischen Fächer. 1905 bestand er das Staatsexamen mit Leichtigkeit.

Erste Anstellung am Kantonsspital in Münsterlingen

Walter Rudolf Hess mit seiner Ehefrau Louise Hess.

Walter Rudolf Hess mit seiner Ehefrau Louise Hess.

Bild: PD

Während einer ersten Anstellung am Kantonsspital Münsterlingen entstand seine Dissertation über die «Viskosität des Blutes». Sein damals entwickeltes Viskosimeter, mit dem der Flüssigkeitsgrad von Blut und Wasser verglichen werden konnte, diente in der medizinischen Ausbildung noch während Jahrzehnten. Nach einer Zusatzausbildung als Augenarzt eröffnete Hess 1908 eine eigene Praxis für Augenheilkunde in Rapperswil. Die Selbstständigkeit und das gute Einkommen erlaubten ihm nun die Heirat. Am 26. April 1909 heiratete er die Frauenfelder Arztgehilfin Louise Sandmeyer (* 1886), Tochter des Verhörrichters und Rechtsanwalts Johann Traugott Sandmeyer und der Luise, geborene Mörikofer. Louise Hess unterstützte ihren Mann zeitlebens in seiner Arbeit. Als Privatsekretärin tippte sie seine wissenschaftlichen Arbeiten ins Reine.

Vier Jahre nach dem Schritt in die Selbstständigkeit zog es Hess aber wieder an die Universität Zürich und in die Forschung zurück. Den Ersten Weltkrieg überstand er einerseits als Sanitätshauptmann, anderseits waren sogar zwei Auslandsemester in Bonn möglich, wo er vor allem über das Gebiet des Blutkreislaufs forschte. Im Herbst 1917 wählte ihn der Erziehungs- und Regierungsrat zum Ordinarius für Physiologie an die Universität Zürich. Damit begann Hess eine Lehrtätigkeit, die von den Studenten als äusserst anregend, lehrreich, didaktisch geschickt und systematisch empfunden wurde. Sein Arbeitsort war das Physiologische Institut im Obergeschoss des Physikgebäudes an der Rämistrasse 69.

Nobelpreis als Krönung eines Lebenswerks

Der Nobelpreisträger in einer Vorlesung.

Der Nobelpreisträger in einer Vorlesung.

Bild: PD

Ganz besonders widmete Hess sich der Erforschung der Hirnareale und deren Einfluss auf das vegetative Nervensystem, den Kreislauf, die Atmung und den Blutdruck. Auch das «Rätsel des Schlafs» versuchte er wissenschaftlich zu entschlüsseln. Er entdeckte, dass das Zwischenhirn als Zentrum des Nervensystems fungiert. Diese Arbeiten verschafften ihm 1949 mit 68 Jahren die Würde des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin. Die Kantonsschule Frauenfeld feierte damals voller Stolz den Erfolg ihres ehemaligen Gymnasiasten. Und auch in Zürich erfuhr er Ehrungen bei manchen Gelegenheiten.

«Das Verständnis für das Wesen der Denkvorgänge auf molekularer Ebene ist durch die Grundlagenforschung von Hess in Sichtweite gekommen.»

Das sagte ein Referent anlässlich der 100-Jahr-Feier seines Geburtstages 1981. Als Hess 1951 als Institutsdirektor zurücktrat, hatte er Zürich zu einem weltweit beachteten Zentrum für Hirnforschung gemacht. 1967 verliess das Ehepaar Hess die vertraute Umgebung und zog ins Ferienhaus in Ascona im Tessin. Dort starb Walter Rudolf Hess am 12. August 1973 im Alter von 92 Jahren an Herzversagen.

An der Kantonsschule Frauenfeld wird die Erinnerung an den berühmten ehemaligen Schüler und Thurgovianer immerhin – wenn auch nur gelegentlich – hochgehalten. Rapperswil ehrte den berühmten kurzzeitigen Mitbewohner durch eine Gedenktafel am Haus «Zum Pelikan». Und auch die Stadt Frauenfeld hätte allen Grund, eine versäumte Ehrung nachzuholen.

* Der Autor ist Frauenfelder Lokalhistoriker