Wegen mangelnder Deutschkenntnisse: Jedes vierte Thurgauer Kind soll vor dem Chindsgi zur Sprachförderung antraben

Kinder mit sprachlichen Defiziten sollen im Thurgau selektiv zum Besuch von vorschulischen Förderangeboten verpflichtet werden. Um die Kinder herauszufiltern, sollen die Schulgemeinden einen Sprachstanderhebung durchführen. Es wird mit jährlichen Kosten von drei Millionen Franken gerechnet. Bis zu 800 Franken im Jahr soll von den Eltern verlangt werden dürfen.

Sebastian Keller
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Der Thurgauer Regierungsrat setzt auf vorschulische Sprachförderung.

Der Thurgauer Regierungsrat setzt auf vorschulische Sprachförderung.

Bild: Benjamin Manser (19. Oktober 2020)

Das weiss fast jedes Kind: Nicht jedes Kind hat am ersten Schultag genügend Deutschkenntnisse im Thek. In Frauenfeld bekundet rund ein Drittel Mühe, dem Unterricht problemlos zu folgen. Kindergärten berichten von einer zunehmenden Anzahl Kindern mit ungenügenden Sprachkenntnissen. Das ist ein Problem: Sie können sich nur mangelhaft mit ihren Kameraden oder der Lehrperson unterhalten. Und mehr: «Die Sprache spielt eine zentrale Rolle bei der sozialen Integration und für einen erfolgreichen Bildungsverlauf», heisst es in einer Mitteilung des Thurgauer Erziehungsdepartements.

Thurgau schaut Basel-Stadt ab

Nun macht der Thurgau Nägel mit Köpfen: Ein Gesetzespaket soll den Weg ebnen, die sprachlichen Hürden vor Schulbeginn auszumerzen. Soeben ist die externe Vernehmlassung gestartet. Der Ansatz: ein selektives Obligatorium, wie es Basel-Stadt kennt. Damit werden gezielt die Kinder zur vorschulischen Sprachförderung verpflichtet, die Defizite aufweisen. Der Vorteil gegenüber der Freiwilligkeit: Alle Kinder werden erreicht.

Die Thurgauer Erziehungsdirektorin Monika Knill, SVP-Regierungsrätin.

Die Thurgauer Erziehungsdirektorin Monika Knill, SVP-Regierungsrätin.

Donato Caspari

Und das geht so: 18 Monate, bevor sich das Kind auf den Weg zum Kindergarten macht, erhalten die Erziehungsberechtigten Post. Im Schreiben finden sie Zugangsdaten für einen digitalen Fragebogen – eine sogenannte Sprachstanderhebung. Sie geben darin Auskunft über die Sprachkenntnisse ihres Kindes, das etwa drei Jahre alt ist.

Zeigt die Auswertung Defizite auf, stehen am Wohnort oder in der Region Angebote wie Kindertagesstätten, Spielgruppen oder Tagesfamilien bereit. Einen Sprachkurs müssen sie nicht besuchen, es geht um «spielerisch, alltagsintegrierte Sprachbildung». Und dies während sechs Stunden pro Wochen – ohne Schulferien. Wichtig sei, so der Kanton, dass die Kinder Kontakt zu Gleichaltrigen mit Kenntnis der Lokalsprache haben. Die Kriterien für die Angebote seien so gestaltet, dass auf den bisherigen Angeboten in den Gemeinden aufgebaut werden könne. Das teilt Erziehungsdirektorin Monika Knill mit.

Die neue Regel sieht eine Kostenbeteiligung der Eltern vor. Wobei es heisst: Es sei den Schulgemeinden erlaubt, von den Erziehungsberechtigten einkommensabhängige Beiträge zu verlangen. Maximal 800 Franken pro Jahr. Ausschlaggebend ist das steuerbare Einkommen. In Sachen Elternbeiträge ist der Thurgau zwar ein gebranntes Kind. Kurz vor Weihnachten 2017 hatte das höchste Gericht im Land den Thurgau zurückgepfiffen (siehe Box).

Gutachter beurteilt Rechtmässigkeit

Das Thurgauer Gesetz sah bereits einmal vor, dass Eltern zusätzliche Deutschkurse in der obligatorischen Schulzeit mitbezahlen sollten. Nach einer Klage von Privaten urteilte das Bundesgericht 2017: Diese Regelung widerspreche dem verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Volksschule. Die neue Regelung – die Beiträge für vorschulische Sprachförderung vorsieht – hat ein Gutachter geprüft. Er kommt zum Schluss, «dass die Erhebung von Beiträgen von den Erziehungsberechtigten für die vorschulische Sprachförderung rechtmässig sei». Doch schliesst er mit einer Wahrscheinlichkeit von «35 bis 40 Prozent» nicht aus, dass ein Gericht dies anders sieht. (seb.)

Schulgemeinden prüfen Teilnahme

Eine wichtige Rolle spielen Schulgemeinden. Sie führen die Sprachstanderhebungen durch. Sie bezahlen die Angebote. Sie prüfen, ob die Kinder teilnehmen. Auch die politischen Gemeinden sind gefordert: Sie teilen den Schulgemeinden die Adressen der dreijährigen Kinder mit und geben Auskünfte zur Bemessung der Elternbeiträge.

Der Thurgau geht von beträchtlichem Förderbedarf aus. Rund 25 Prozent aller dreijährigen Kinder dürften es im Kantonsschnitt sein. «Dieser Anteil variiert von Gemeinde zu Gemeinde», heisst es im Bericht. Diese Schätzung fusst auf Erfahrungen aus Basel-Stadt, Luzern sowie der Stadt Frauenfeld. Auch die Zahl der Schüler, die «Deutsch als Zweitsprache» besuchen, gibt einen Hinweis. Pro Jahrgang dürften rund 750 Kinder Defizite im Deutsch haben.

Um sie in Sachen Deutsch fit zu machen, rechnet man über alle Schulgemeinden hinweg mit Kosten von rund drei Millionen Franken. Die neue Regelung könnte – «im optimalen Fall» – 2023 in Kraft treten, teilt Monika Knill mit.

Die externe Vernehmlassung beginnt am Donnerstag, 22. Oktober , und endet am Sonntag, 31. Januar . Eingeladen sind unter anderem politische Parteien, verschiedene Verbände sowie Bildungsinstitutionen, wobei es auch allen anderen Personen offen steht, sich zu äussern.