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Nicht das Obergericht soll ausserordentliche Thurgauer Bezirksrichter ernennen, sondern der Grosse Rat. Die vorberatende Kommission hält den Vorschlag des Regierungsrats nicht für verfassungskonform.
Es war schon lange klar, dass ein grösserer Prozess ein Thurgauer Bezirksgericht überlasten könnte. 2017 war es mit dem Fall Kümmertshausen so weit. Von einem «Jahrhundertfall» spricht der Präsident der vorberatenden Kommission zur Überprüfung der Justizorganisation, Dominik Diezi (CVP, Arbon).
Am Bezirksgericht Kreuzlingen war einer der drei Berufsrichter während gut einem Jahr zu 100 Prozent davon absorbiert. Andere Fälle blieben liegen, was vom Bundesgericht bemängelt wurde. So musste ein Konkubinatspaar, das sich um die Aufteilung einer Liegenschaft stritt, jahrelang auf ein Urteil warten.
Um ein Thurgauer Bezirksgericht zu entlasten, gibt es bisher kaum eine andere Möglichkeit als eine Pensenerhöhung der andern Richter, sofern sie nicht schon bei 100 Prozent sind. Die Anstellung zusätzlicher Gerichtsschreiber ist unzureichend, da sie keine Verhandlungen leiten und Zeugen befragen dürfen.
Einen Richter vorübergehend anzustellen, geht aus rechtlichen Gründen nicht. Denn Bezirksrichter werden gemäss Kantonsverfassung vom Volk gewählt. Der Aufwand einer Volkswahl wäre unverhältnismässig. Und wenn ein Richter beispielsweise wegen eines Unfalls ersetzt werden müsste, käme der Ersatz laut Diezi zu spät. Auch wäre es schwierig, einen Richter auf befristete Zeit zu finden.
Noch 2014 wollte der Regierungsrat das Problem nicht anpacken. Nach dem Mutterschaftsurlaub der Weinfelder Gerichtspräsidentin hatte ihn eine überparteiliche Motion dazu aufgefordert. Der Regierungsrat kündigte immerhin an, bei der geplanten Überprüfung der Justizorganisation einen Vorschlag zu bringen. Nun ist es so weit. Zehn Jahre nach Einführung der schweizweit geltenden Strafprozessordnung will der Regierungsrat diverse Details der kantonalen Justizorganisation ändern. Im Dezember hat er ein Gesetzespaket an den Grossen Rat geschickt.
Unter anderem schlägt er vor, dass das Obergericht für maximal ein Jahr einen ausserordentlichen Richter einsetzen darf; dieser soll aus dem Kreis der Bezirksrichter und erfahrenen Gerichtsschreiber stammen.
Der Vorschlag des Regierungsrats widerspricht aber ebenfalls der Verfassung, findet eine 10:1-Mehrheit der vorberatende Kommission. Für die Beratung der Vorlage nächste Woche schlägt sie dem Grossen Rat eine andere Lösung vor: Der Grosse Rat kann ausserordentliche Bezirksrichter für maximal zwei Jahre einsetzen, wenn das Obergericht dies beantragt. Ein Anlass dazu können Überlastung, Unfall oder Mutterschaftsurlaub sein, aber auch «gesetzliche Pflichten» wie ein längerer Militärdienst.
Die Kommission diskutierte sechs verschiedene Varianten. Die Meinungen über die richtige Lösung seien weit auseinander gegangen, heisst es in Diezis Kommissionsbericht. Den Durchbruch brachte die Einsetzung einer kommissionsinternen Arbeitsgruppe, die sich mit den Bezirksgerichtspräsidenten und der Obergerichtspräsidentin zusammensetzte.
Die Kommission beruft sich auf einen Absatz in der Kantonsverfassung, wonach das Gesetz dem Grossen Rat «weitere Befugnisse» übertragen kann. Da der Grosse Rat die Gesetze erlässt, könnte man argumentieren, dass er sich so selber weitere Befugnisse zuschanzt. Diezi widerspricht. Die Justizreform stehe unter Referendum:
«Am Ende ist es das Volk, das darüber entscheidet.»
Der Arboner Stadtpräsident und ehemalige Bezirksgerichtspräsident spricht von einem «Meilenstein» und hofft, «dass es endlich gelingt, eine mehrheitsfähige Lösung» zu finden. Die Bezirksgerichte sollten in ausserordentlichen Situationen funktionsfähig bleiben. Damit würde eine «jahrzehntealte Pendenz» erledigt und auch die Vorgaben des Bundesgerichts erfüllt, das in den letzten Jahren seine Praxis geändert habe. Es gelte heute als verfassungsmässiges Bürgerrecht, innert nützlicher Frist einen Gerichtsentscheid zu erhalten.
Die Kommission lehnt eine Anzeigepflicht für Behörden ab, denen ein «von Amtes wegen zu verfolgendes Verbrechen oder Vergehen bekannt wird». Der Regierungsrat will damit die bisher geltende, nach seiner Ansicht unklare Formulierung «schwerwiegende Straftat» ersetzen. Laut Kommissionspräsident Dominik Diezi müsste in diesem Fall ein Gemeinderat nach einer nachträglich erteilten Baubewilligung zum Abschluss eine Strafanzeige einreichen. Ein Bauherr würde kriminalisiert, auch wenn er sich kooperativ verhalten habe und es «einfach dumm gelaufen» sei, dass er nicht vorgängig ein Gesuch eingereicht hatte. (wu)