R-Wert
Die trügerische Zahl und die Turboviren

Die Reproduktionszahl zeigt im Thurgau seit einigen Wochen nach unten. An sich eine gute Nachricht. Die Verantwortlichen des Kantons geben deshalb aber keine Entwarnung an der Pandemiefront. Der zuletzt relativ tiefe Wert von 0,78 könnte auch an der geringeren Testaktivität liegen.

Sebastian Keller
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Ein Apotheker testet eine Frau mittels eines Schnelltests auf das Coronavirus.

Ein Apotheker testet eine Frau mittels eines Schnelltests auf das Coronavirus.

Bruno Kissling/Oltner Tagblatt

Der Reproduktionszahl ist eine Art Pandemie-Tacho: Sie zeigt an, wie schnell sich das Coronavirus verbreitet. So gibt der R-Wert an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Liegt der Wert über 1, ist das Verbreitungstempo hoch. Stufe Autobahn. Eine Person steckt im Schnitt mehr als eine weitere an.

Diesen R-Wert berechnen Wissenschafter der ETH Zürich. Dazu füttern sie ihr Modell mit verschiedenen Daten. Letztlich bleibt der R-Wert eine Schätzung, da viele Infektionen gar nicht erkannt werden. Dennoch verfolgt auch der Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin die Entwicklung der Reproduktionszahl mit Interesse, wie er gegenüber dieser Zeitung sagte.

Die Entwicklung des R-Wertes im Kanton Thurgau.

Die Entwicklung des R-Wertes im Kanton Thurgau.

Quelle: ETH Zürich

Der R-Wert für den Kanton Thurgau war zuletzt rückläufig. Auf der ETH-Plattform wird die aktuellste Zahl für den Kanton mit 0,78 ausgewiesen; sie datiert vom 21. Dezember. Für den 25. September wurde die Reproduktionszahl mit 2,08 angegeben. Die ETH-Wissenschafter weisen darauf hin, dass der neuste Wert das Infektionsgeschehen von vor 14 bis 17 Tagen abbildet. «Grund dieser Verzögerung ist das Zeitintervall zwischen Ansteckung und positivem Testergebnis.» Für das ganze Land ist die Berechnung etwas zeitnaher: Für den Weihnachtstag, den 25. Dezember, weist die ETH einen Wert von 0,89 aus.

Wie wertet der Kanton diese Entwicklung? Auf Anfrage schreibt Miriam Hetzel vom kantonalen Informationsdienst: «Einzelne R-Wert- Schätzungen dürfen nicht isoliert betrachtet werden.» Die Science-Taskforce, also das wissenschaftliche Beratergremium des Bundesrates in der Pandemie, führe Schätzungen der Reproduktionszahl mit weiteren Indikatoren und Analysen zusammen, um eine Beurteilung der epidemiologischen Situation vorzunehmen.

Werte sind möglicherweise unterschätzt

Die ETH deutet an, dass die aktuellen Zahlen nicht zwingend eine Verlangsamung der Pandemie bedeuten müssen. Denn: Die Werte über die Feiertage seien «möglicherweise unterschätzt». Diese Unterschätzung trete auf, wenn sich in dieser Zeit weniger Menschen testen lassen. Im Thurgau war das jüngst der Fall. Das Statistikportal des Kantons weist für die letzte Dezemberwoche insgesamt 3264 Testungen aus. Weniger getestet wurde zuletzt Mitte Oktober. Zum Vergleich: In der Woche vor dem vierten Advent fanden insgesamt 6779 Coronatests statt. Das sind mehr als doppelt so viele.

Die oberste Coronabehörde im Land sieht es ähnlich. «Die Infektionszahlen spiegeln die epidemiologische Lage derzeit nur ungenügend wieder», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einer Mitteilung von Mittwoch. Zwar seien die Fallzahlen in den vergangenen Tagen etwas gesunken, doch es wurden auch deutlich weniger Tests durchgeführt. «Ein erneuter Anstieg der Fallzahlen nach den Feiertagen ist nicht ausgeschlossen», schreibt das BAG. Angesprochen auf einen möglichen Festtagseffekt schreibt Miriam Hetzel für den Kanton Thurgau: Bisher seien - Stand 5. Januar 2021 - keine Hinweise auf gehäufte Ansteckungen auszumachen.

Im Thurgau wurden in den vergangenen Tagen tendenziell weniger Fälle gemeldet als beispielsweise an mehreren Tagen Mitte Dezember. Am Mittwoch gab der Kanton 184 neue Covid-19-Fälle bekannt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der 7-Tage-Durchschnitt, der auch einen Pandemietrend zeigt. Für den Berchtoldstag lag er bei 116,6 Fällen; mit 195,3 wurde er für den 16. Dezember berechnet. Dieser Rückgang ist auf den ersten Blick erfreulich, doch die tiefe Anzahl der Tests zeichnet wohl auch hier ein zu sonniges Bild.

Die Pandemiebekämpfer beschäftigt seit wenigen Wochen auch eine Art Turboviren. Diese erstmals in Grossbritannien und Südafrika festgestellten Mutationen des Coronavirus gelten als um ein Vielfaches ansteckender als die bisherigen. Laut Miriam Hetzel wurden sie bisher im Thurgau aber nicht nachgewiesen. Es ist nicht auszuschliessen, dass diese Turboviren den R-Wert wieder in die Höhe treiben.

Die fehlende Zahl der isolierten Personen

(seb.) Der Kanton Thurgau publiziert auf Twitter Zahlen zur Coronalage – so etwa Neuinfektionen, Anzahl hospitalisierte Personen, aber auch Todesfälle. Seit einigen Tagen wird eine Angabe von der Twitter-Gemeinde allerdings vermisst: Die Zahl der aktuell infizierten Personen, die sich in Isolation befinden müssten. Eine Frau verlangt vom Kanton, diese wieder zu liefern: «Sonst vermittelten Sie den Eindruck, dass Sie es nicht mehr unter Kontrolle haben!» Zu den Gründen für das Ausbleiben schreibt Miriam Hetzel vom kantonalen Informationsdienst: «Dies ist dem Wechsel des Contact-Tracings im Thurgau von der Lungenliga Thurgau zu JDMT geschuldet und der Neustrukturierung von Prozessen und Systemen, welche damit einhergeht.» Die Daten sollen jedoch künftig wieder von Montag bis Freitag publiziert werden. Mitte Dezember gab der Kanton bekannt, dass ab dem neuen Jahr die JDMT Medical Services AG in Pfäffikon (ZH) die Infektionsnachverfolgung für den Thurgau übernimmt. Von Mai bis Dezember 2020 war die Lungenliga Thurgau im Auftrag des Kantons dafür zuständig.