Der liebliche Thurgau, wo Adelige ihre Residenzen errichteten, ist anderswo. An den Ufern der Murg brachte das 19. Jahrhundert allerdings Industriebauten und eine Bahnstrecke hervor, die heute zu einer Entdeckungstour einladen.
Am Hörnli, auf knapp 1000 Metern über Meer, entspringt die Murg. Das kleine Rinnsal wird auf seiner 34 Kilometer langen Reise durch den Süden des Thurgaus zu einem Flüsschen mit grosser Bedeutung. Im 19. und 20. Jahrhundert war die Murg Motor der Industrie zwischen Sirnach und Frauenfeld. Zahlreiche Manufakturen nutzten ihre Wasserkraft, bevor sie hinter Frauenfeld auf 396 Metern über Meer in die Thur mündet. So entstanden an ihrem Ufer mehrere Fabrikgebäude, die noch heute von der damaligen Zeit der Industrialisierung zeugen. Diese rücken nun in einer Entdeckungstour des Thurgauer Industrie- und Architektenvereins in den Fokus. «Zwischen Sirnach und Frauenfeld entstand im 19. Jahrhundert entlang der Murg eine Industrieachse mit internationaler Ausstrahlung, die mit der Inbetriebnahme der Frauenfeld-Wil-Bahn 1887 zusätzlichen Auftrieb erhielt», huldigt der Verein auf der eigens für die architektonischen Entdeckungstouren durch den Kanton erstellten Webseite den kleinen Fluss, der Grosses bewirkte.
Der erste Abschnitt entlang der Murg führt vorbei am geschichtsträchtigen Kloster Fischingen, eingebettet in die steilste Thurgauer Hügellandschaft. Die Etappe rund um das möglicherweise schönste Dorf der Schweiz ist ruhig, hat aber etwas Gegenverkehr. Hier pilgern die Frommen gegen den Strom der plätschernden Murg. Noch 2300 Kilometer sind es bis Santiago de Compostela.
Wer aber dem Flusslauf folgt, kommt schliesslich nach Münchwilen, wo wenige Schritte nach dem markanten Gerichtsgebäude erste industrielle Höhepunkte der Route darauf warten, bestaunt zu werden. «Die ehemalige Strumpffabrik ist ein besonders hübscher Bau», sagt die Thurgauer Architektin Heidi Stoffel. Sie hat die baulichen Entdeckungstouren durch den Thurgau mitentwickelt. Weniger bekannt als die ehemalige Strumpffabrik – aber ebenfalls denkmalgeschützt und nur einen Steinwurf entfernt– ist die einstige Weberei, die später zum Mädchenheim werden sollte.
Der lange, dreigeschossige Bau ist vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut worden. «Alles in einer angemessenen Stattlichkeit», sagt Stoffel. Die Fassade mit den zahlreichen und regelmässig angeordneten Fenstern wird mit einem Türmchen auf dem Giebeldach gekrönt. Einst wohnten hier mehr als hundert junge Frauen, die als Fabrikarbeiterinnen von Norditalien nach Münchwilen kamen. Unter diesem Dach herrschten strenge Regeln. Zwischen 1916 und 1963 führten die Menzinger Schwestern das Mädchenheim. Bete und arbeite, war das Credo. Letzteres in der Tüllindustrie St. Margarethen, für tiefen Lohn und wenig Freizeit. Zweimal täglich seien die Mädchen uniformiert und in Dreierkolonnen in die Fabrik nach St. Margarethen hin- und zurückmarschiert und hätten dabei den Rosenkranz gebetet, wird der Nachwelt überliefert. Heute dient der Bau des ehemaligen Mädchenheims als Mehrfamilienhaus, das in den 90er Jahren «behutsam renoviert» wurde, wie im kantonalen Hinweisinventar festgehalten ist.
Weiter geht es entlang der Murg. Das ist nicht der liebliche Thurgau, auf dem sich der Adel seine Residenzen bauen liess. Die Schlösser des Murgtals sind Fabriken mit hohen Kaminen statt Aussichtstürmchen. Architektin Stoffel nennt es «eine spröde Gegend». Doch der heutige Reiz liegt im Anspruch des Fabrikanten des 19. Jahrhunderts. «Er legte Wert auf einen gepflegten und repräsentativen Bau seiner Fabrik», sagt Stoffel. Das sind Werte, die bei heutigen Industriebauten kaum noch beachtet werden. Ein bedeutender Zeuge der Industriebaukultur sticht im Rosental ins Auge: die Zwirnerei. Der dreigeschossige, würfelförmige teilweise verputzte Backsteinbau macht einen gepflegten Eindruck. Und er hält die Stellung in der Textilbranche. Die Zwirnerei ist immer noch aktiv. Das historische Gebäude teilt sie aber unterdessen mit anderen Institutionen, etwa einer sozialen Einrichtung, die Werkstätte und ein Brockenhaus betreibt.
Die Industriebauten im Murgtal sind eng verbunden mit der Frauenfeld-Wil-Bahn. Wo immer eine bedeutende Fabrik stand, gibt es eine Haltestelle in unmittelbarer Nähe. Das zeigt sich deutlich beim Murkart-Areal zwischen Matzingen und Frauenfeld. Die Schmalspurbahn fuhr hier einst weit mehr als hundert Arbeiter täglich an ihren Arbeitsplatz. Doch diese Tage sind längst vorbei. Zuletzt war die Spinnerei noch als Färberei gebraucht, bevor Anfang der 1970er-Jahre die Fabriktore für immer schlossen. Seither nagt der Zahn der Zeit an der einst stolzen Fabrik, die noch verschiedenem Kleingewerbe Unterschlupf bietet. Pflichtbewusst hat die Frauenfeld-Wil-Bahn die Haltestelle aufrechterhalten, einen Halt auf Verlangen ermöglicht. Doch kaum jemand drückt noch auf den Halteknopf. Nach dem nächsten Fahrplanwechsel braust das rot-weisse Bähnli deshalb immer vorbei. Der Zug ist abgefahren, dieser Fabrik neues Leben einzuhauchen und dabei den eigenen Bahnanschluss als Vorteil zu nutzen.
Im Süden Frauenfelds grüsst schliesslich die Walzmühle als eines der Höhepunkte der architektonischen Entdeckungstour. Schon im Mittelalter nutzten die Menschen die Murg an dieser Stelle zur Energiegewinnung. Das Areal hat seither viel erlebt. Hier wurde sogar schon Schnupftabak produziert. Die grösste Bekanntheit erlangte die Fabrik dank Ferdinand Sigg. Mit seinen Trinkflaschen erlebte die Manufaktur vor hundert Jahren einen Aufschwung. In den 90er-Jahren zog Sigg in einen Neubau nebenan. Auf dem altehrwürdigen Fabrikareal kehrte Ruhe ein. Ab Herbst dieses Jahres wird dort ein neues Zeitalter eingeläutet. Ein Immobilienkonzern verspricht Loftwohnungen mit Raumhöhen von bis zu acht Metern hinter der denkmalgeschützten Fabrikfassade.
Die Walzmühle symbolisiert den Wandel der Industriebauten. Ihre Funktionalität hat sie verloren. Doch sie bleibt charakteristisch. Das sichert ihr die Daseinsberechtigung.