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Ostschweiz
Eine Autofahrerin fährt am frühen Morgen einen jungen Mann tot, der betrunken auf der Strasse liegt. Vor einem Jahr hat das Bezirksgericht Frauenfeld sie frei gesprochen. Am Mittwoch stand sie wegen fahrlässiger Tötung vor dem Obergericht.
Es ist ein selten tragischer Fall, der am Mittwoch vor dem Thurgauer Obergericht verhandelt wurde. Tragisch für die Familie, deren Sohn, Bruder und Enkel gestorben ist. Tragisch aber auch für die Frau, die ihn überfahren hat. Ihr wirft der Staatsanwalt fahrlässige Tötung vor. Das Bezirksgericht Frauenfeld hat die 46-Jährige vor einem Jahr frei gesprochen. Doch sowohl Staatsanwalt als auch die Familie des Opfers haben das Urteil weiter gezogen.
Passiert ist es am 20. September 2015, gegen 6 Uhr morgens. Die Beschuldigte ist mit ihrem Lieferwagen von Unterstammheim in Richtung Dietingen unterwegs. Sie will Brote ausliefern. Plötzlich sieht sie, dass auf der Fahrbahn ein Mensch liegt. Sie kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und überfährt den Mann. Er stirbt noch auf der Unfallstelle.
Das Bezirksgericht Frauenfeld hat vor dem Prozess letztes Jahr den Unfall mit einer dunkel gekleideten Puppe nachgestellt. Am Steuer sass die vorsitzende Richterin. Sie hatte die Puppe erst aus einer Entfernung von 25 Metern gesehen, zu spät, um rechtzeitig anzuhalten. Ihr Fazit damals: Die Fahrerin habe keine Chance gehabt, die Person zu erkennen.
Vorbehalte gegen den nachgestellten Unfall äussern am Mittwoch vor dem Obergericht sowohl der Staatsanwalt als auch der Anwalt der Opfer-Familie. «Eine Tat-Situation lässt sich nicht identisch rekonstruieren», sagt der Staatsanwalt.
Der Anwalt der Opferfamilie sass bei der Probefahrt neben der Richterin im Auto. Er habe die Puppe auf der Strasse sehr viel früher gesehen als die Richterin. «Mindestens 50 Meter vorher.» Seine Erklärung: Die Richterin sei älter als er und ab 50, noch mehr ab 60 Jahren, nehme die Sehfähigkeit ab. Die Beschuldigte sei jedoch in seinem Alter. Das heisst für ihn: Wäre sie aufmerksam gewesen, hätte sie den jungen Mann erkennen und rechtzeitig bremsen können.
Wie schnell die Beschuldigte gefahren ist, lässt sich nicht mehr sagen. Der Staatsanwalt geht davon aus, dass sie mit 60 Stundenkilometern unterwegs war. Bei diesem Tempo sei der Bremsweg 35 Meter lang. Da die Frau mit Abblendlicht fuhr, hätte sie den Mann aus einer Entfernung von etwa 45 Metern sehen müssen. Bei einer sofortigen Vollbremsung wäre der schlimme Unfall vermieden worden. «Ein Fahrzeuglenker muss jederzeit in der Lage sein, auf jede Gefahr zweckmässig zu reagieren», sagt der Staatsanwalt. Die Beschuldigte selbst habe ausgesagt, sie habe zuerst versucht, nach links auszuweichen. Das nimmt ihr der Staatsanwalt nicht ab: «Die Bremsspuren zeigen alle nach rechts.»
Aber auch ein Ausweichmanöver hätte den Zusammenstoss verhindern können. Es hätte jedoch konsequent sein müssen. Auch eine Fehlreaktion stelle ein strafrechtlich relevantes Nichtbeherrschen des Fahrzeuges dar. Die Anträge des Staatsanwalts: eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 40 Franken, bei einer Probezeit von zwei Jahren. Dazu soll sie eine Busse von 300 Franken und die Untersuchungskosten zahlen.
Die Beschuldigte habe gewusst, dass es in der Nacht zuvor ein grosses Fest gegeben habe und am Morgen mit Betrunkenen zu rechnen sei, betonte der Anwalt der Opfer-Familie. «Hätte sie ihre volle Aufmerksamkeit auf die Strasse gerichtet, wäre alles nicht passiert.» Doch die Frau habe nur vier Stunden geschlafen und etwas Alkohol getrunken, bevor sie zu Bett gegangen sei.
Seine Mandantin sei mit korrekter Geschwindigkeit unterwegs gewesen, hält der Verteidiger dagegen. Da müsse man ihr eine Reaktionszeit von mehr als einer Sekunde zugestehen. Sonst sei jeder Autofahrer in einer komplexen Situation überfordert. Selbst, wenn sie «suboptimal» gehandelt habe: Zuerst ein Ausweichmanöver versucht und erst dann die Vollbremsung eingeleitet, sei das in einem solchen Fall zu entschuldigen. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für ungenügende Aufmerksamkeit. Der Verteidiger beantragt deshalb einen Freispruch. Das Urteil des Obergerichts steht noch aus.