Der Thurgauer Fotograf Barnabas Bosshart hat mit seinen Bildern die Entwicklung des kleinen Ortes Alcantara an der Nordostküste Brasiliens international zu einem Begriff gemacht. Wir haben ihn dort besucht.
«Barnabas, tudo bem?» Viele Leute in Alcantara kennen den Thurgauer Fotografen Barnabas Bosshart – sie fragen ihn, wie es ihm geht, und geben ihm die Hand, wenn er vom Hafen kommend in sein Haus zurückkehrt. Seit er vor 37Jahren erstmals den kleinen Ort auf dem Hügel in der Bucht von São Luis besuchte, ist er mit Alcantara verbunden, hat die Entwicklung des Ortes mit seiner Kamera dokumentiert.
Vor allem mit seinen Porträts von Menschen und ihrer Umgebung hat Bosshart in Ausstellungen und Büchern den Ort im Nordosten Brasiliens international zu einem Begriff gemacht.
Die Menschen berichten ihm, was in Alcantara so passiert – etwa, dass die Präfektin, die mit zehn Millionen Reals (6,5 Millionen Franken) verschwunden war, jetzt erneut kandidiert; dass der Nachbar vom Krankenbett wohl nicht mehr aufstehen werde, dass ein neues Restaurant eröffnet wurde.
Barnabas fragt zurück, wie die Geschäfte gehen und wer eines der vielen zerfallenden Häuser gekauft hat, um es zu renovieren.
Der Thurgauer Barnabas Bosshart hat jahrelang in den Favelas – den Slums von Rio – fotografiert. Mit seiner Kamera fing er den Alltag, aber auch die Gewalttätigkeit ein. «In den Favelas leben die Menschen nach den Regeln von Gangs, die Gefolgschaft erwarten, aber meist besser für die Menschen sorgen, als es der Staat tut.»
Vor einigen Jahren hat Bosshart ein neues Projekt in Angriff genommen. Er wollte Eigenheiten, Kultur, Traditionen und Lebensweise des Canela-Apanyekra-Stammes in Zentral-Maranhao im Nordosten Brasiliens festhalten. «Das ist einer der vergessenen Indianerstämme, die um ihr Überleben kämpfen», erklärt Barnabas. «Man kann dort nicht hingehen, die Kamera herausnehmen und wieder gehen.» Immer wieder suchte Bosshart daher den Indianerstamm auf, machte Geschenke, nahm welche entgegen, liess sich von einer Familie «adoptieren», nahm am Stammesleben teil.
«Als Fotograf muss ich mich auf die Menschen einlassen, mit ihnen leben, ihr Vertrauen gewinnen – so dazugehören, dass die Kamera gar nicht mehr auffällt.»
Seit Bosshart 1973 auf einer Südamerikareise – für die sich der damals schon renommierte Londoner Modefotograf ein Jahr Zeit nahm – erstmals nach Alcantara kam, ist er immer wieder zurückgekehrt, hat sich am Hauptplatz ein Haus gekauft und will sich hier in nicht allzu ferner Zeit endgültig niederlassen.
Bosshart hat vor allem die Menschen in ihrer ärmlichen Umgebung fotografiert – meist Schwarze, Nachkommen von Sklaven. Barnabas hat fotografiert, was ihm einen Blick durch die Kamera wert war – und er hat damit eine Welt dokumentiert, die es so nicht mehr gibt. Viele dieser Bilder hängen als Postkarten in den Läden, am Hafen, selbst in der Kirche zum Verkauf.
Sie zeugen von den Veränderungen, die der Ort erfahren hat – einst unter den Portugiesen wegen des Sklavenhandels bedeutend.
Heute lebt Alcantara vom Handel mit dem Hinterland, von der Raketenbasis, die Brasilien auf der Halbinsel aufgebaut hat, von den Tagestouristen, die mit dem Schiff über die Bucht von São Luis kommen.
Bosshart erklärt, beschreibt, erinnert sich, spricht mit alten und neuen Bekannten; so dauert der Rundgang länger, als ein oberflächlicher Tourist erwarten würde. Man muss sich wie der Fotograf auf den Ort einlassen, der sich mit Fernsehen, Internet und Lautsprechern der Zeit angepasst hat. Barnabas beobachtet, erinnert sich, vergleicht, wartet ab und entdeckt ständig Neues in dem kleinen unbedeutenden Ort an der Nordostküste Brasiliens – auch noch nach 40 Jahren
Eleonore Baumberger