Gastkommentar
Willkommen in der Datenschutz-Schizophrenie

Schweizerinnen und Schweizer zögern keinen Moment, Plattformen online alle möglichen Daten preiszugeben. Nur bei der Covid-App überwogen die Bedenken. Das dürfte so gegen 3000 bis 4000 Franken pro Person kosten.

Miriam Meckel
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Miriam Meckel ist Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement an der HSG und Gründungsverlegerin der digitalen Bildungsinitiative Ada.

Miriam Meckel ist Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement an der HSG und Gründungsverlegerin der digitalen Bildungsinitiative Ada.

Es ist schon beeindruckend, wie sehr die Diskussion um den Umgang mit der Corona-Pandemie von Gegensätzlichkeiten bestimmt wird: Volksgesundheit gegen Ökonomie, Impfen gegen Vorsorgen, Datenschutz gegen Gesundheitsfürsorge. Tatsächlich liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Grauzone dazwischen. In der müssen wir alle dieser Tage navigieren.

Leider ist die Politik dabei oft unbeholfen unterwegs. Ihr gelingt nicht, was vielen Unternehmen, vom Startup bis zum Grosskonzern, immer wieder hilft, sich mit dem Puls der Zeit zu verändern, um die besten Lösungen anzubieten. Pivoting heisst das im Silicon Valley: umschwenken, wenn die Bedingungen es nötig machen.

Beim Einsatz der Corona Tracing-App wäre das nötig gewesen. Entwickelt in der ersten Phase der Pandemie ist die App aus einer Situation der Unsicherheit entstanden. Schnell waren Lobbygruppen zur Stelle, um gegen den Einsatz von Tracing-Technologie zu polemisieren. Nur dezentral dürften die Daten der App gespeichert werden, so die Forderung, sonst drohe das Ende der Privatsphäre.

Die verpasste Chance im Sommer

Mitten in der zweiten Corona-Welle wissen wir: Man hätte die Sommermonate nutzen können und müssen, um die Erfahrungen der ersten Pandemiephase auszuwerten und die App grundlegend zu verbessern. Denn diese zweite Welle kam mit Wucht. Wieder ist das soziale Leben eingeschränkt, die Wirtschaft leidet. Hätte die App hier helfen können? Womöglich schon. Dafür hätte es einen Pivot gebraucht.

Die technischen Grundlagen der App erlauben nur dezentrale Datenspeicherung. Das ist ein wichtiger und richtiger Ansatz, um die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer zu schützen. Aber die Fixierung auf «dezentral» ist an vielen Stellen zum undifferenzierten Lobbythema verkommen. Wissenschaftliche Studien zeigen nämlich, dass auch dezentrale Lösungen nicht immer vor Missbrauch schützen. Vor allem aber gilt: Wer immer Google, Facebook, TikTok nutzt, liefert in jeder Sekunde seine Daten an die zentralen Server des jeweiligen Unternehmens ab. Das finden wir unproblematisch, weigern uns aber, ähnlich offen mit unseren Daten umzugehen, wenn es um die eigene Gesundheit und die anderer Menschen geht? Um die Möglichkeit, sich zu treffen, im Restaurant zu essen und einen wirtschaftlichen Einbruch zu vermeiden? Wie hat Friedrich Dürrenmatt einst gesagt: Das Rationale am Menschen sind die Einsichten, die er hat. Das Irrationale an ihm ist, dass er nicht danach handelt.

Das führt zu aberwitzigen Situationen: Menschliche Contact-Tracer bitten Betroffene, doch mal gemeinsam in ihre Google Maps History schauen zu dürfen. Die zeichnet nämlich minutiös auf, wann man sich wo aufgehalten hat. Wir nutzen also die umfassende dezentrale Datenspeicherung eines US-Tech-Konzerns, um die Mängel der COVID-App auszugleichen. Willkommen in der Datenschutz-Schizophrenie.

Contact Tracing und App wären 30 Mal billiger als ein Lockdown

Inzwischen wurde die Corona-App etwa 1,8 Millionen Mal freiwillig runtergeladen. Nicht mal ein Viertel der Bevölkerung nutzt sie also. Berechnungen zeigen, dass ein konsequenter Einsatz von Contact Tracing inklusive App 30 Mal kostengünstiger ist als ein Lockdown wie im Frühjahr. Gäbe es den wieder, könnte das die Schweizer Wirtschaft bis zu 30 Milliarden CHF kosten. Zugespitzt heisst das: Das Schweizervolk lässt sich den mangelnden Einsatz und die beschränkten technischen Möglichkeiten des Contact Tracing pro Person zwischen 3000 und 4000 CHF kosten.

In einem Gemeinwesen, wie der Schweiz, verbinden sich die positiven Rechte ökonomischer Freiheit und einer vom Staat weitgehend unbehelligten Lebensweise mit ein paar Verpflichtungen: die Eigeninteressen gelegentlich hintanzustellen, wenn es um das Wohl der Gemeinschaft geht. Im politischen Pandemiemanagement findet diese Abwägung kaum statt. Ein teures Missvergnügen politischer Gestaltungsarmut.