Aargau-Science-Fiction
Was wäre, wenn der Aargau zum Konzern wird im Jahr 2071? In diesem Parlament wird aus dem Albtraum Realität

Ein Science-Fiction der dritten Art findet heute im Grossratsgebäude in Aarau statt. Mit an Bord sind gestandene Politikerinnen und Wirtschaftsexperten aus der ganzen Schweiz. Was steckt hinter dem futuristischen Theater-Coup?

Daniele Muscionico
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Schöner Schein: Im Parlament wird die Zukunft des Aargau festgelegt mit u.a. (von links) Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger, Politikerin Silvia Dell’Aquila und Jurist Christian Bär.

Schöner Schein: Im Parlament wird die Zukunft des Aargau festgelegt mit u.a. (von links) Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger, Politikerin Silvia Dell’Aquila und Jurist Christian Bär.

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Was ist das eigentlich, Theater? Eine Spielanlage im real existierenden Kantonsparlament gibt darauf eine überraschende Antwort: Theater ist, wenn wir gemeinsam mit Expertinnen und Fachleuten selbst darüber bestimmen können, wie unsere Zukunft wird. Das futuristische Experiment heisst «Die Aarau AG» und findet im Grossratssaal an zwei Abenden statt. Und mit berechtigter Hoffnung lässt sich bereits im Vorfeld sagen: So etwas hat in der Schweiz ein Parlamentsgebäude – und mit ihm mündige Bürgerinnen und Bürger – noch nicht erlebt.

Wer den Vorstellungen des Künstler-Kollektivs «Proberaum Zukunft» Folge leistet, sieht die Sache heute Abend so: Das Regierungsgebäude ist Hauptsitz eines Konzerns. Und was für eines sogar! Es gehört dem Unternehmen «Aarau AG». Am historischen Bau werben Banner und das Markenlogo; auf Bildschirmen flimmern Konzernplakate und Imagefilme; aus Lautsprechern ertönen Wohlfühlmusik, Jingles und Durchsagen.

Hier wird der Kanton Aargau vollprivatisiert

Die Aktionärinnen und Aktionäre der fiktiven «Aarau AG» werden willkommen geheissen zur ausserordentlichen Generalversammlung. Am Welcome Desk trifft sich, wer nach Sitzungsunterlagen fragt oder wer Fragen hat zum Abstimmungsverfahren. Denn auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft unseres Gemeinwesens – und das heisst unseres gemeinsamen Konzerns.

Um die Verwirrung zu klären: Was 2021 der Kanton Aargau war, ist 2071 die «Aarau AG», so lautet die Abmachung. Nationalstaaten sind gemäss der Spielanordnung bankrott, alle Macht gehört nun definitiv den Unternehmen. Und auch unser schöner Flecken im Schweizer Mittelland soll in 50 Jahren in die Form einer Aktiengesellschaft übergegangen sein.

Doch so lukrativ dieses Unternehmen in den letzten fünf Jahrzehnten performte, im November 2071 erleben die Aktien der «Aarau AG» einen dramatischen Sinkflug. Die Gründe sind skandalös, das heisst theatertauglich dramatisch, jedenfalls hat die Konzernleitung Hals über Kopf ihren Rücktritt erklärt und sich abgesetzt in südlichere Bananenrepubliken, als es die hiesige 2071 ist. Man munkelt von Bilanzfälschung und Fake News, von Whistleblowern und einem Leak. An der Aktionärsversammlung der «Aarau AG» nun wird eine neue Konzernspitze gewählt; stimmberechtigt ist jede und jeder, der oder die mit dem Kauf einer Eintrittskarte, in unterschiedlichen Preisklassen ein Aktienpaket, in unterschiedlicher Höhe hält.

Ein All-Star-Ensemble mit Anita Fetz und Aaraus Stadträtin Silvia Dell'Aquila

Wer das Szenario als Ausgangslage als hirnrissiger ­Science-Fiction bezeichnet, muss wissen: Erfolgreiche Persönlichkeiten aus der Schweizer Politik und Wirtschaft nehmen die Fiktion ernst. Sie sind Teil der Inszenierung und stellen sich sogar für das neue Präsidium zur Verfügung.

So kandidieren unter anderen die ehemalige Stadt-Basler Ständerätin Anita Fetz und Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger für das Verwaltungspräsidium; aus dem Aktionariat sodann werden sich an der ­Generalversammlung alt Regierungsrat Baschi Dürr (FDP) von Basel-Stadt und die frisch gewählte Aarauer Stadträtin Silvia Dell’Aquila (SP) zu Wort melden. Geleitet wird die Sitzung von einer, die den Ton und die Gestik intus hat, der SP-Generalsekretärin des Kanton Zürich und ehemaligen Kantonsrätin Andrea Sprecher. Nicht zu vergessen, aus Küttigen ist Dominic Bachofen (JSVP) und aus dem Aarauer Einwohnerrat Daniel Ballmer (Grüne) mit dabei.

Wer steckt hinter dem Projekt «Aarau AG», wer kommt auf eine derart hochfliegende Idee? Die Fragen sind berechtigt. Hinter dem Pre-Enactment einer möglichen Zukunft – die künstlerische Praxis, die zukünftige politische Ereignisse vorwegnimmt und damit auch gestalten will – steht das Kollektiv «Proberaum Zukunft», und als künstlerische Partnerin trägt den Abend die Bühne Aarau mit.

Alle Macht dem neuen Bürgertum

Das Kernteam des Projekts ist eingeschworen: Marcel Grissner, Leiter der Abteilung Vermittlung am Zürcher Theaterhaus, Nikolai Eneas Prawdzic, Dramaturg am Zürcher Theater Neumarkt, und Sarah Verny, Theaterpädagogin. Das Kollektiv teilt den Glauben, dass in einer Zeit wie diesen, der es an Hoffnung mangelt, mittels Theater ein Beitrag in Richtung Solidarität und gemeinsamer Zukunft geleistet werden kann. Prawdzic sagt es so: «Statt des Grundgefühls der Ohnmacht wollen wir dem Publikum einen Raum öffnen, in dem es sich in seiner Macht und in seiner Handlungsfähigkeit erleben soll.» Die Produktion «Aarau AG» entstand im Rahmen des dreijährigen Residenzprogramms «Szenotop». Ziel des Teams war es, mit Menschen der Region Zukunft nicht nur neu zu denken, sondern sie auch konkret zu gestalten.

Ob und wie das funktioniert, wird sich zeigen. Thrill und Spannung jedenfalls stehen ungeschrieben auf der Traktandenliste, wenn es im Grossratsaal morgen um 19.30 Uhr heisst: «Die Sitzung beginnt in wenigen Minuten. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein.»

«Aarau AG» am 24./26.11. Eintrittskarten können auch vor Ort, im Grossratsgebäude in Aarau gekauft werden. www.proberaum-zukunft.ch