Das polnische Verfassungsgericht kommt zum Schluss, dass Teile der EU-Verträge mit der polnischen Verfassung unvereinbar sind. Es ist ein Urteil mit Sprengkraft.
Mehrere Male wurde das Urteil am polnischen Verfassungsgericht verschoben. Verständlich. Immerhin handelt es sich um einen Richterspruch, an dem sich nicht weniger als der Verbleib Polens in der Europäischen Union entscheiden könnte.
Jetzt ist das Verdikt da. Und es hat es in sich: Die polnischen Richter stellen die Hoheit des Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg infrage. Unter anderem stellen sie fest, dass Artikel 19 des EU-Vertrages, der die Rolle des EuGHs definiert, in Teilen unvereinbar mit der polnischen Verfassung sei.
Die Folgerung daraus ist, dass Europäisches Recht nicht mehr unbedingt Vorrang vor EU-Recht hat und sich polnische Gerichte demnach nicht mehr an Urteile aus Luxemburg halten müssen. Aber auch der Artikel 1 des EU-Vertrags, wo es um die Konstitution der EU im Grundsatz geht, wird beanstandet.
Arguably, the decision of the Polish constitutional court declaring Art. 19 TEU incompatible with the PL constitution can be interpreted as a declaration under Art. 50 TEU (exit the EU). Either they leave ot they change the PL constitution. https://t.co/caLuZ6Oz1H
— Prof. Franz C. Mayer (@prof_mayer) October 7, 2021
In den Augen von Verfassungsrechtlern ist das eine juristische Atombombe. Der deutsche Rechtsprofessor Franz Mayer vergleicht den Entscheid auf Twitter mit der Anrufung des Artikel 50 im EU-Vertrag, der den Austritt aus der Europäischen Union regelt und Grossbritannien in den Brexit geführt hat. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts sei nichts weniger als ein «rechtlicher Polexit», so Mayer.
We reaffirm the founding principles of the Union's legal order:
— European Commission 🇪🇺 (@EU_Commission) October 7, 2021
🔸 EU law has primacy over national law, incl. constitutional provisions
🔸 All rulings by @EUCourtPress are binding on all Member States' authorities, incl. national courts
Statement→ https://t.co/2s8yjAkia7 pic.twitter.com/K97aoN4i74
Die EU-Kommission reagierte umgehend auf den Entscheid aus Warschau. EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht. EuGH-Entscheide seien bindend für allle Mitgliedsstaaten. Die Kommission werde nicht zögern, «alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Integrität und einheitliche Anwendung von EU-Recht zu verteidigen», heisst es in dem Statement.
Was das konkret heisst, wird sich zeigen. Bereits jetzt hält die EU-Kommission die bis zu 24 Milliarden Euro Hilfsgelder und Kredite aus dem Coronafonds zurück, die Polen zustünden. Wie lange das noch möglich ist, ist aber unklar.
Aus dem EU-Parlament kamen besorgte Reaktionen. Die christdemokratische EVP-Fraktion im EU-Parlament sagte in einem Statement, die polnische Regierung habe ihre Glaubwürdigkeit verloren. Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner forderte die sofortige Einstellung aller für Polen vorgesehenen EU-Mittel.
Die EU-Parlamentarierin und ehemalige deutsche Justizministerin Katarina Barley meinte: «So kann die EU nicht funktionieren». Und die ehemalige EU-Kommissarin aus Polen, Danuta Hübner, kommentierte, es sei ein «trauriger Tag in der modernen Geschichte Polens».
The so-called Constitutional Tribunal presented it's verdict on the primacy of EU law. It considers art. 1 TEU and art. 19 TEU incompatible with 🇵🇱Constitution with regards to PL courts giving precedence to EU law and allow to disregard the Constitution as well as other laws...
— Danuta Huebner (@danutahuebner) October 7, 2021
Die Eskalation ist der vorläufige Höhepunkt eines Streit zwischen Polen und der EU, der bereits seit Jahren tobt. Im Zentrum steht die Justizreform, welche die nationalkonservative Regierung der «Recht und Gerechtigkeitspartei» von Jaroslaw Kaczynski seit ihrem Antritt 2015 kontinuierlich vorantreibt.
Laut mehreren Urteilen des EuGHs stellt die Reform die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte infrage. Zum Beispiel indem, dass die Regierung Richter und Staatsanwälte beliebig austauschen oder entlassen kann. Der EuGH forderte Polen mehrmals auf, seine Gesetze zu ändern.
Das lehnte Warschau weitgehend ab. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hatte den Konflikt nun auf die Spitzen getrieben, in dem er vom Verfassungsgericht einen Grundsatzentscheid zur Frage verlangte: Was geht vor - Polnisches Recht oder EU-Recht?
🇵🇱🇩🇪🇨🇿⚖️To everyone commenting on this - please remember, that the Tribunal is hardly an independent court that can be seen as equal to BVerfG or Ústavní soud České republiky. It is almost fully subservient to the ruling party, which has filled its bench with loyalists. (57/wtm)
— Jakub Jaraczewski (@J_Jaraczewski) October 7, 2021
Diskussionen über das Verhältnis von nationalem und europäischen Recht finden in der EU immer wieder statt. So hatte sich kürzlich auch das deutsche Verfassungsgericht gegen ein EuGH-Urteil aufgelehnt.
Aber so grundsätzlich wie die polnischen Richter hat noch nie jemand das Fundament der EU als Rechtsgemeinschaft angegriffen. Wie es nun weitergehen wird, ist unklar. Eine offizielle Reaktion der EU-Kommission stand zunächst aus.
Beobachter weisen darauf hin, dass zur Einschätzung des Urteils gehöre, dass das polnische Verfassungsgericht bereits heute nicht mehr unabhängig sei, sondern im Gegenteil direkt von der Regierung gesteuert werde.